Jacques Mourad und die Liebe in Syrien Festrede von Navid Kermani Anlässlich der Verleihung von Friedenspreis 2015 des Deutschen Buchhandels An dem Tag, als mich die Nachricht vom Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erreichte, am selben Tag wurde in Syrien Jacques Mourad entführt. Zwei bewaffnete Männer traten in das Kloster Mar Elian am Rande der Kleinstadt Qaryatein und verlangten nach Pater Jacques. Sie fanden ihn wohl in seinem kargen kleinen Büro, das zugleich sein Wohnzimmer und sein Schlafzimmer ist, packten ihn und nahmen ihn mit.
Am 21. Mai 2015 wurde Jacques Mourad eine Geisel des sogenannten „Islamischen Staats“.
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Ich habe Pater Jacques im Herbst 2012 kennengelernt, als ich für eine Reportage durch das bereits kriegsgeschüttelte Syrien reiste. Er betreute die katholische Gemeinde von Qaryatein und gehörte zugleich dem Orden von Mar Musa an, der sich Anfang der achtziger Jahre in einem verfallenen frühchristlichen Kloster gegründet hat. Das ist eine besondere, eine wohl einzigartige christliche Gemeinschaft, denn sie hat sich der Begegnung mit dem Islam und der Liebe zu den Muslimen verschrieben. So gewissenhaft die Nonnen und Mönche die Gebote und Rituale ihrer eigenen, katholischen Kirche befolgen, so ernsthaft beschäftigen sie sich mit dem Islam und nehmen bis hin zum Ramadan teil an der muslimischen Tradition. Das klingt verrückt, ja, aberwitzig: Christen, die sich nach ihren eigenen Worten in den Islam verliebt haben. Und doch war diese christlich-muslimische Liebe noch vor kurzem Wirklichkeit in Syrien und ist es in den Herzen vieler Syrer noch immer. Mit ihrer Hände Arbeit, ihrer Herzen Güte und ihrer Seelen Gebete schufen die Nonnen und Mönche von Mar Musa einen Ort, der mir utopisch anmutete und für sie selbst nichts Geringeres als die endzeitliche Versöhnung – sie würden nicht sagen: vorwegnahm, aber doch vorausfühlte, die kommende Versöhnung voraussetzte: ein Steinkloster aus dem siebten Jahrhundert mitten in der überwältigenden Einsamkeit des syrischen Wüstengebirges, das von Christen aus aller Welt besucht wurde, an dem jedoch zahlreicher noch Tag für Tag Dutzende, Hunderte arabische Muslime anklopften, um ihren christlichen Geschwistern zu begegnen, um mit ihnen zu reden, zu singen, zu schweigen und auch, um in einer bilderlosen Ecke der Kirche nach ihrem eigenen, islamischen Ritus zu beten.
Als ich Pater Jacques 2012 besuchte, war der Gründer der Gemeinschaft, der italienische Jesuit Paolo Dall'Oglio, kurz zuvor des Landes verwiesen worden. Zu laut hatte Pater Paolo die Regierung Assad kritisiert, die den Ruf des syrischen Volkes nach Freiheit und Demokratie, der neun Monate lang friedlich geblieben war, mit Verhaftungen und Folter beantwortete, mit Knüppeln und Sturmgewehren und schließlich auch mit ungeheuren Massakern und sogar Giftgas, bis das Land schließlich im Bürgerkrieg versank. Aber Pater Paolo hatte sich auch gegen die Führung der syrischen Amtskirchen gestellt, die zu der Gewalt der Regierung schwiegen.Vergeblich hatte er in Europa um Unterstützung für die syrische Demokratiebewegung geworben, vergeblich die Vereinten Nationen aufgefordert, eine Flugverbotszone einzurichten oder wenigstens Beobachter zu schicken. Vergeblich hatte er vor einem Krieg der Konfessionen gewarnt, wenn die säkularen und gemäßigten Gruppen im Stich gelassen und aus dem Ausland ausschließlich die Dschihadisten unterstützt würden. Vergeblich hatte er die Mauer unserer Apathie zu durchbrechen versucht. Im Sommer 2013 kehrte der Gründer der Gemeinschaft von Mar Musa noch einmal heimlich nach Syrien zurück, um sich für einige muslimische Freunde einzusetzen, die in den Händen des „Islamischen Staat“ waren, und wurde selbst vom „Islamischen Staat“ entführt. Seit dem 28. Juli 2013 fehlt von Pater Paolo Dall'Oglio jede Spur.
Pater Jacques, der nun allein die Verantwortung für das Kloster Mar Elian trug, ist seinem Wesen nach ein ganz anderer Mensch, kein begnadeter Redner, kein Charismatiker, kein temperamentvoller Italiener, sondern wie so viele Syrer, die ich kennenlernte, ein stolzer, bedächtiger, äußerst höflicher Mann, recht hochgewachsen, ein breites Gesicht, die kurzen Haare noch schwarz. Natürlich habe ich ihn nicht gut kennengelernt, nahm an der Messe teil, die wie in allen östlichen Kirchen aus berückend schönem Gesang bestand, und beobachtete, wie zugewandt er beim anschließenden Mittagessen mit den Gläubigen und örtlichen Honoratioren plauderte. Als alle Gäste verabschiedet waren, nahm er mich für eine halbe Stunde mit in sein winziges Zimmer und rückte für das Interview einen Stuhl neben das schmale Bett, auf dem er selbst Platz nahm.
Nicht nur seine Worte erstaunten mich – wie furchtlos er die Regierung kritisierte, wie offen er auch über die Verhärtung in der eigenen, christlichen Gemeinde sprach. Tiefer noch hat sich mir seine Erscheinung eingeprägt: ein stiller, sehr gewissenhafter, in sich gekehrter, auch asketischer Diener Gottes, so nahm ich ihn wahr, der aber nun, da ihm Gott die Seelsorge der bedrängten Christen in Qaryatein und die Führung der klösterlichen Gemeinschaft auferlegt hatte, auch diese öffentliche Aufgabe mit all seiner Kraft ausübte. Er sprach leise und so langsam, die Augen meist geschlossen, als würde er bewusst den Puls verlangsamen und das Interview als Atempause zwischen zwei anstrengenderen Verpflichtungen nutzen. Zugleich sprach er sehr überlegt, in druckreifen Sätzen, und was er sagte, war von einer Klarheit und auch politischen Schärfe, dass ich immer wieder nachfragte, ob es nicht zu gefährlich sei, ihn wörtlich zu zitieren. Dann öffnete er die warmen, dunklen Augen und nickte müde, ja, das könne ich alles drucken, sonst hätte er es doch nicht gesagt; die Welt müsse erfahren, was in Syrien geschieht.
Diese Müdigkeit, das war auch ein starker, vielleicht mein stärkster Eindruck von Pater Jacques – es war die Müdigkeit eines Menschen, der mehr als nur eingesehen, nämlich bejaht hatte, dass es Erholung vielleicht erst im nächsten Leben gibt, die Müdigkeit eines Arztes und Feuerwehrmannes auch, der sich seine Kräfte einteilt, wenn die Not überhandnimmt. Und ein Arzt und Feuerwehrmann war Pater Jacques als Priester inmitten des Krieges ja auch, nicht nur für die Seelen der Verängstigten, ebenso für die Leiber der Bedürftigen, denen er in seiner Kirche ungeachtet ihres Glaubens Essen, Schutz, Kleidung, Wohnstatt und vor allem Zuwendung bot. Viele hundert, wenn nicht Tausende von Flüchtlingen hat die Gemeinschaft von Mar Musa bis zuletzt in ihrem Kloster beherbergt und versorgt, die allermeisten von ihnen Muslime. Und nicht nur das – Pater Jacques gelang es, wenigstens in Qaryatein den Frieden, auch den konfessionellen Frieden, zu bewahren. Maßgeblich ihm ist es zu verdanken, dem stillen, ernsten Pater Jacques, dass sich die verschiedenen Gruppen und Milizen, manche regierungsnah, manche oppositionell, darauf einigten, aus dem Städtchen alle schweren Waffen zu verbannen. Und ihm gelang es, dem kirchenkritischen Priester, fast alle Christen seiner Gemeinde zum Bleiben zu bewegen. „Wir Christen gehören zu diesem Land, auch wenn das die Fundamentalisten weder bei uns noch in Europa gern hören“, sagte Pater Jacques mir: „Die arabische Kultur ist unsere Kultur!“
Bitter stießen ihm die Aufrufe mancher westlicher Politiker auf, gezielt arabische Christen aufzunehmen. Derselbe Westen, der sich nicht um die Millionen Syrer schere, die quer durch alle Konfessionen friedlich für Demokratie und Menschenrechte demonstrierten, derselbe Westen, der den Irak zugrunde gerichtet und Assad sein Giftgas geliefert habe, derselbe Westen, der mit Saudi-Arabien im Bunde stehe und damit dem Hauptsponsor des Dschihadismus – dieser gleiche Westen sorge sich nun um die arabischen Christen? Da könne er nur lachen, sagte Pater Jacques, ohne eine Miene zu verziehen. Und fuhr mit geschlossenen Augen fort: „Diese Politiker befördern mit ihren unverantwortlichen Äußerungen genau jenen Konfessionalismus, der uns Christen bedroht.“
Immer größer wurde die Verantwortung, die Pater Jacques so klaglos wie immer trug. Die ausländischen Mitglieder der Gemeinschaft mussten Syrien verlassen und fanden Zuflucht im Nordirak. Zurück blieben nur die sieben syrischen Mönche und Nonnen, die sich auf die beiden Klöster Mar Musa und Mar Elian verteilten. Ständig verschoben sich die Fronten, so dass in Qaryatein mal der Staat, mal oppositionelle Milizen herrschten. Mit beiden Seiten mussten sich die Mönche und Nonnen arrangieren und dazu wie alle Bewohner die Luftangriffe überleben, wenn die Kleinstadt gerade in den Händen der Opposition war. Dann aber drang der „Islamische Staat“ immer weiter ins syrische Kerngebiet vor. „Die Bedrohung durch den IS, dieser Sekte von Terroristen, die ein fürchterliches Bild des Islams abgeben, ist in unserer Gegend angekommen“, schrieb Pater Jacques wenige Tage vor seiner Entführung an eine französische Freundin. Und weiter: „Es ist schwierig zu entscheiden, was wir tun sollen. Sollen wir unsere Häuser verlassen? Das fällt uns schwer. Einzusehen, dass wir verlassen sind, ist fürchterlich – verlassen zumal von der christlichen Welt, die beschlossen hat, auf Distanz zu gehen, um die Gefahr von sich fern zu halten. Wir bedeuten ihnen nichts.“
Allein in diesen wenigen Zeilen einer bloßen, sicher eilig geschriebenen Mail fallen zwei Formulierungen auf, die charakteristisch sind für Pater Jacques und zugleich ein Maßstab für jede Intellektualität. In dem ersten Satz heißt es: „Die Bedrohung durch den IS, dieser Sekte von Terroristen, die ein fürchterliches Bild des Islams abgeben...“ Der andere Satz, über die christliche Welt: „Wir bedeuten ihnen nichts.“ Er verteidigte die fremde Gemeinschaft und kritisierte die eigene. Als die Gruppe, die sich auf den Islam beruft und vorgibt, das Gesetz des Korans anzuwenden, ihn und seine Gemeinde bereits unmittelbar physisch bedrohte, wenige Tage vor seiner eigenen Entführung, betonte Pater Jacques noch, dass diese Terroristen das wahre Gesicht des Islams entstellten. Ich würde jedem Muslim widersprechen, dem angesichts des „Islamischen Staates“ nur die Floskel einfällt, dass die Gewalt nichts mit dem Islam zu tun habe. Aber ein Christ, ein christlicher Priester, der damit rechnen muss, von Andersgläubigen vertrieben, gedemütigt, verschleppt oder getötet zu werden, und dennoch darauf beharrt, diesen anderen Glauben zu rechtfertigen – ein solcher Gottesdiener legt eine Größe an den Tag, die ich sonst nur aus den Viten der Heiligen kenne.
Jemand wie ich kann den Islam nicht auf diese Weise verteidigen. Er darf es nicht. Die Liebe zum Eigenen – zur eigenen Kultur wie zum eigenen Land und genauso zur eigenen Person – erweist sich in der Selbstkritik. Die Liebe zum anderen – zu einer anderen Person, einer anderen Kultur und selbst zu einer anderen Religion – kann viel schwärmerischer, sie kann vorbehaltlos sein. Richtig, die Liebe zum anderen setzt die Liebe zu sich selbst voraus. Aber verliebt, wie es Pater Paolo und Pater Jacques in den Islam sind, verliebt kann man nur in den anderen sein. Die Selbstliebe hingegen muss, damit sie nicht der Gefahr des Narzissmus, des Selbstlobs, der Selbstgefälligkeit unterliegt, eine hadernde, zweifelnde, stets fragende sein. Wie sehr gilt das für den Islam heute! Wer als Muslim nicht mit ihm hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht ihn kritisch befragt, der liebt den Islam nicht.
Es sind nicht nur die schrecklichen Nachrichten und noch schrecklicheren Bilder aus Syrien und dem Irak, wo der Koran noch bei jeder Schweinetat hochgehalten und bei jeder Enthauptung „Allahu akbar“ gerufen wird. Auch in so vielen anderen, wenn nicht den meisten Ländern der muslimischen Welt berufen sich staatliche Autoritäten, staatsnahe Institutionen, theologische Schulen oder aufständische Gruppen auf den Islam, wenn sie das eigene Volk unterdrücken, Frauen benachteiligen, Andersdenkende, Andersgläubige, anders Lebende verfolgen, vertreiben, massakrieren. Unter Berufung auf den Islam werden in Afghanistan Frauen gesteinigt, in Pakistan ganze Schulklassen ermordet, in Nigeria Hunderte Mädchen versklavt, in Libyen Christen geköpft, in Bangladesch Blogger erschossen, in Somalia Bomben auf Marktplätzen gezündet, in Mali Sufis und Musiker umgebracht, in Saudi-Arabien Regimekritiker gekreuzigt, in Iran die bedeutendsten Werke der Gegenwartsliteratur verboten, in Bahrein Schiiten unterdrückt, im Jemen Sunniten und Schiiten aufeinander gehetzt.
Gewiss lehnen die allermeisten Muslime Terror, Gewalt und Unterdrückung ab. Das ist nicht nur eine Floskel, sondern das habe ich auf meinen Reisen genau so erlebt: Wem die Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist, der ermisst erst recht ihren Wert. Alle Massenaufstände der letzten Jahre in der islamischen Welt waren Aufstände für Demokratie und Menschenrechte, nicht nur die versuchten, wenn auch meist gescheiterten Revolutionen in fast allen arabischen Ländern, ebenso die Protestbewegungen in der Türkei, in Iran, in Pakistan und nicht zuletzt der Aufstand an den Wahlurnen der letzten indonesischen Präsidentschaftswahl. Ebenso zeigen die Flüchtlingsströme an, wo sich viele Muslime ein besseres Leben erhoffen als in ihrer Heimat: jedenfalls nicht in religiösen Diktaturen. Auch die Berichte, die uns aus Mossul oder Rakka selbst erreichen, künden nicht von Begeisterung, sondern von Panik und Verzweiflung der Bevölkerung. Alle maßgeblichen theologischen Autoritäten der islamischen Welt haben den Anspruch des IS verworfen, für den Islam zu sprechen, und im Detail herausgearbeitet, inwiefern dessen Praxis und Ideologie dem Koran und den Grundlehren der islamischen Theologie widersprechen. Und vergessen wir nicht, dass es an vorderster Front Muslime selbst sind, die gegen den „Islamischen Staat“ kämpfen, Kurden, Schiiten, auch sunnitische Stämme und die Angehörigen der irakischen Armee.
Das muss man alles sagen, will man nicht dem Trugbild aufsitzen, das Islamisten und Islamkritiker wortgleich entwerfen: Dass der Islam einen Krieg gegen den Westen führt. Eher führt der Islam einen Krieg gegen sich selbst, will sagen: wird die islamische Welt von einer inneren Auseinandersetzung erschüttert, deren Auswirkungen auf die politische und ethnische Kartographie an die Verwerfungen des Ersten Weltkriegs heranreichen dürften. Den multiethnischen, multireligiösen und multikulturellen Orient, den ich in seinen großartigen literarischen Zeugnissen aus dem Mittelalter studiert und während langer Aufenthalte in Kairo und Beirut, als Kind während der Sommerferien in Isfahan und als Berichterstatter im Kloster von Mar Musa als eine zwar bedrohte, niemals heile, aber doch quicklebendige Wirklichkeit lieben gelernt habe, diesen Orient wird es so wenig mehr geben wie die Welt von gestern, auf die Stefan Zweig in den Zwanzigerjahren voller Wehmut und Trauer zurückblickte.
Was ist geschehen? Der „Islamische Staat“ hat nicht erst heute begonnen und auch nicht erst mit den Bürgerkriegen im Irak und in Syrien. Seine Methoden mögen auf Ablehnung stoßen, aber seine Ideologie ist der Wahhabismus, der heute bis in die hintersten Winkel der islamischen Welt wirkt und als Salafismus gerade auch für Jugendliche in Europa attraktiv geworden ist. Wenn man weiß, dass die Schulbücher und Lehrpläne im „Islamischen Staat“ zu 95 Prozent identisch mit den Schulbüchern und Lehrplänen Saudi-Arabiens sind, dann weiß man auch, dass die Welt nicht nur im Irak und in Syrien strikt in verboten und erlaubt eingeteilt wird - und die Menschheit in gläubig und ungläubig. Gesponsert mit Milliardenbeträgen aus dem Öl, hat sich über Jahrzehnte in Moscheen, in Büchern, im Fernsehen ein Denken ausgebreitet, das ausnahmslos alle Andersgläubigen zu Ketzern erklärt, beschimpft, terrorisiert, verächtlich macht und beleidigt. Wenn man andere Menschen systematisch, Tag für Tag, öffentlich herabsetzt, ist es nur folgerichtig – wie gut kennen wir das aus unserer eigenen, der deutschen Geschichte –, daß man schließlich auch ihr Leben für unwert erklärt. Dass ein solcher religiöser Faschismus überhaupt denkmöglich wurde, dass der IS so viele Kämpfer und noch mehr Sympathisanten finden, dass er ganze Länder überrennen und Millionenstädte weitgehend kampflos einnehmen konnte, das ist nicht der Beginn, sondern der vorläufige Endpunkt eines langen Niedergangs, eines Niedergangs auch und gerade des religiösen Denkens.
Ich habe 1988 angefangen, Orientalistik zu studieren, meine Themen waren der Koran und die Poesie. Ich glaube, jeder, der dieses Fach in seiner klassischen Ausprägung studiert, gelangt an den Punkt, an dem er die Vergangenheit und die Gegenwart nicht mehr zusammenbringen kann. Und er wird hoffnungslos, hoffnungslos sentimental. Natürlich war die Vergangenheit nicht einfach nur friedlich und kunterbunt. Aber als Philologe hatte ich vor allem mit den Schriften der Mystiker, der Philosophen, der Rhetoriker und ebenso der Theologen zu tun. Und ich, nein: wir Studenten konnten und können nur staunen über die Originalität, die geistige Weite, die ästhetische Kraft und auch humane Größe, die uns in der Spiritualität Ibn Arabis, der Poesie Rumis, der Geschichtsschreibung Ibn Khalduns, der poetischen Theologie Abdulqaher al-Dschurdschanis, der Philosophie des Averroes, den Reisebeschreibungen Ibn Battutas und noch in den Geschichten von Tausendundeiner Nacht begegnen, die weltlich sind, ja, weltlich und erotisch und übrigens auch feministisch und zugleich auf jeder Seite durchdrungen vom Geist und den Versen des Korans. Das waren keine Zeitungsberichte, nein, die soziale Wirklichkeit dieser Hochkultur sah wie jede Wirklichkeit grauer und gewalttätiger aus. Und doch sagen diese Zeugnisse etwas darüber aus, was einmal denkmöglich oder sogar selbstverständlich war innerhalb des Islams. Nichts, absolut nichts findet sich innerhalb der religiösen Kultur des modernen Islams, das auch nur annähernd vergleichbar wäre, eine ähnliche Faszination ausübte, von ebensolcher Tiefe wäre wie die Schriften, auf die ich in meinem Studium stieß. Und da spreche ich noch gar nicht von der islamischen Architektur, der islamischen Kunst, der islamischen Musikwissenschaft – es gibt sie nicht mehr.
Ich möchte Ihnen den Verlust an Kreativität und Freiheit an meinem eigenen Fachgebiet illustrieren: Es war einmal denkmöglich und sogar selbstverständlich, dass der Koran ein poetischer Text ist, der nur mit den Mitteln und Methoden der Poetologie begriffen werden kann, nicht anders als ein Gedicht. Es war denkmöglich und sogar selbstverständlich, dass ein Theologe zugleich ein Literaturwissenschaftler und Kenner der Poesie war, in vielen Fällen auch selbst ein Dichter. In der heutigen Zeit wurde mein eigener Lehrer Nasr Hamid Abu Zaid in Kairo der Ketzerei angeklagt, von seinem Lehrstuhl vertrieben und sogar zwangsgeschieden, weil er die Koranwissenschaft als eine Literaturwissenschaft begriff. Das heißt, ein Zugang zum Koran, der selbstverständlich war und für den Nasr Abu Zaid die bedeutendsten Gelehrten der klassischen islamischen Theologie heranziehen konnte, wird heute nicht einmal mehr als denkmöglich anerkannt. Ein solcher Zugang zum Koran, obwohl er der traditionelle ist, wird verfolgt und bestraft und verketzert. Dabei ist der Koran ein Text, der sich nicht etwa nur reimt, sondern in verstörenden, vieldeutigen, geheimnisvollen Bildern spricht, er ist auch kein Buch, sondern eine Rezitation, die Partitur eines Gesangs, der seine arabischen Hörer durch seine Rhythmik, Lautmalerei und Melodik bewegt. Die islamische Theologie hat die ästhetischen Eigenheiten des Korans nicht nur berücksichtigt, sie hat die Schönheit der Sprache zum Beglaubigungswunder des Islams erklärt. Was aber geschieht, wenn man die sprachliche Struktur eines Textes missachtet, sie nicht einmal mehr angemessen versteht oder auch nur zur Kenntnis nimmt, das lässt sich heute überall in der islamischen Welt beobachten. Der Koran sinkt herab zu einem Vademekum, das man mit der Suchmaschine nach diesem oder jenem Schlagwort abfragt. Die Sprachgewalt des Korans wird zum politischen Dynamit.
Oft ist zu lesen, dass der Islam durch das Feuer der Aufklärung gehen oder die Moderne sich gegen die Tradition durchsetzen müsse. Aber das ist vielleicht etwas zu einfach gedacht, wenn die Vergangenheit des Islams so viel aufklärerischer war und das traditionelle Schrifttum bisweilen moderner anmutet als der theologische Gegenwartsdiskurs. Goethe und Proust, Lessing und Joyce haben schließlich nicht unter geistiger Umnachtung gelitten, dass sie fasziniert waren von der islamischen Kultur. Sie haben in den Büchern und Monumenten etwas gesehen, was wir, die wir oft genug brutal mit der Gegenwart des Islams konfrontiert sind, nicht mehr so leicht wahrnehmen. Vielleicht ist das Problem des Islams weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie.
Alle Völker des Orients haben durch den Kolonialismus und durch laizistische Diktaturen eine brutale, von oben verordnete Modernisierung erlebt. Das Kopftuch, um es an einem Beispiel zu illustrieren, das Kopftuch haben die iranischen Frauen nicht allmählich abgelegt – Soldaten schwärmten auf Anordnung des Schahs 1936 in den Straßen aus, um es ihnen mit Gewalt vom Kopf zu reißen. Anders als in Europa, wo die Moderne bei allen Rückschlägen und Verbrechen doch als ein Prozess der Emanzipation erlebt werden konnte und sich über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte vollzog, war sie im Nahen Osten wesentlich eine Gewalterfahrung. Die Moderne wurde nicht mit Freiheit, sondern mit Ausbeutung und Despotie assoziiert. Stellen Sie sich einen italienischen Präsidenten vor, der mit dem Auto in den Petersdom fährt, mit seinen schmutzigen Stiefeln auf den Altar springt und dem Papst seine Peitsche ins Gesicht schlägt – dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was es bedeutete, als Reza Schah 1928 mit seinen Reitstiefeln durch den Heiligen Schrein von Ghom marschierte und auf die Bitte des Imams, wie jeder Gläubige die Schuhe auszuziehen, dem Imam mit der Peitsche ins Gesicht schlug. Und Sie fänden vergleichbare Vorgänge und Schlüsselmomente in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens, die sich nicht langsam von der Vergangenheit lösten, sondern diese Vergangenheit zertrümmerten und aus dem Gedächtnis zu radieren versuchten.
Man hätte annehmen können, dass wenigstens die religiösen Fundamentalisten, die nach dem Scheitern des Nationalismus überall in der islamischen Welt an Einfluss gewannen, die eigene Kultur wertschätzen. Indes taten sie das Gegenteil: Indem sie zu einem vermeintlichen Uranfang zurückkehren wollten, vernachlässigten sie die Tradition nicht bloß, sondern bekämpften sie dezidiert. Wir wundern uns nur deshalb über den Bildersturm des „Islamischen Staates“, weil wir nicht mitbekommen haben, dass in Saudi-Arabien praktisch überhaupt keine Altertümer mehr stehen. In Mekka haben die Wahhabiten die Gräber und Moscheen der engsten Prophetenangehörigen, ja selbst das Geburtshaus des Propheten zerstört. Die historische Moschee des Propheten in Medina wurde durch einen gigantischen Neubau ersetzt, und wo bis vor wenigen Jahren noch das Haus stand, in dem Mohammed mit seiner Frau Khadija wohnte, steht heute ein öffentliches Klo.
Außer mit dem Koran beschäftigte ich mich während des Studiums hauptsächlich mit der islamischen Mystik, dem Sufismus. Mystik, das klingt nach etwas Randseitigem, nach Esoterik, nach einer Art Untergrundkultur. Nichts könnte mit Bezug auf den Islam falscher sein. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Sufismus fast überall in der islamischen Welt die Grundlage der Volksfrömmigkeit. Im asiatischen Islam ist er es bis heute. Zugleich war die islamische Hochkultur, insbesondere die Dichtung, die bildende Kunst und die Architektur, durchdrungen vom Geist der Mystik. Als die geläufigste Form der Religiosität bildete der Sufismus das ethische und ästhetische Gegengewicht zur Orthodoxie der Rechtsgelehrten. Indem er an Gott vor allem die Barmherzigkeit hervorhob, im Koran hinter jeden Buchstaben sah, in der Religion stets die Schönheit suchte, die Wahrheit auch in anderen Glaubensformen erkannte und ausdrücklich vom Christentum das Gebot der Feindesliebe übernahm, durchdrang der Sufismus die islamischen Gesellschaften mit Werten, Geschichten und Klängen, die aus einer Buchstabenfrömmigkeit allein nicht abzuleiten gewesen wären. Der Sufismus als der gelebte Islam setzte den Gesetzesislam nicht etwa außer Kraft, aber er ergänzte ihn, machte ihn im Alltag weicher, ambivalenter, durchlässiger, toleranter und durch die Musik, den Tanz, die Poesie vor allem auch sinnlich erlebbar.
Kaum etwas davon ist übrig geblieben. Wo immer die Islamisten Fuß fassten, angefangen schon im 19. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien bis zuletzt in Mali, machten sie zuerst den sufischen Festen ein Ende, verboten die mystischen Schriften, zerstörten die Gräber der Heiligen, schnitten den sufischen Führern die langen Haare ab oder töteten sie gleich. Aber nicht nur die Islamisten. Auch den Reformern und religiösen Aufklärern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galten die Traditionen und Sitten des Volksislams als rückständig und veraltet. Nicht etwa sie haben das sufische Schrifttum ernst genommen, sondern es waren westliche Gelehrte, Orientalisten wie die Friedenspreisträgerin von 1995, Annemarie Schimmel, die die Handschriften ediert und damit vor der Vernichtung bewahrt haben. Und selbst heute noch beschäftigen sich nur sehr wenige muslimische Intellektuelle mit dem Reichtum, der in ihrer eigenen Tradition liegt. Die zerstörten, missachteten, vermüllten Altstädte mit ihren ruinierten Baudenkmälern überall in der islamischen Welt stellen den Verfall des islamischen Geistes ebenso sinnbildlich dar wie die größte Shopping-Mall der Welt, die in Mekka direkt neben der Kaaba gebaut wurde. Das muss man sich vor Augen halten, das kann man auf Bildern auch sehen: Das eigentliche Heiligtum des Islams, dieses so schlichte und herrliche Bauwerk, in dem der Prophet selbst betete, wird buchstäblich von Gucci und Apple überragt. Vielleicht hätten wir weniger auf den Islam unserer Großdenker als auf den Islam unserer Großmütter hören sollen.
Sicher, in manchen Ländern hat man begonnen, Häuser und Moscheen zu restaurieren, allerdings mussten erst westliche Kunsthistoriker oder auch verwestlichte Muslime wie ich kommen, die den Wert der Tradition erkannten. Und leider kamen wir ein Jahrhundert zu spät, als die Gebäude bereits zerfallen, die Bautechniken vergessen und die Bücher aus dem Gedächtnis radiert waren. Aber immerhin glaubten wir, Zeit zu haben, um die Dinge gründlich zu studieren. Inzwischen komme ich mir als Leser fast schon wie ein Archäologe in einem Kriegsgebiet vor, der eilig und keineswegs immer durchdacht die Relikte aufsammelt, auf dass spätere Generationen sie wenigstens noch museal betrachten können. Wohl bringen muslimische Länder immer noch überragende Werke hervor, wie sich auf Biennalen, Filmfestivals und ebenso auf der diesjährigen Buchmesse wieder zeigt. Aber mit dem Islam hat diese Kultur kaum noch etwas zu tun. Es gibt keine islamische Kultur mehr, jedenfalls keine von Rang. Was uns jetzt um die Ohren und auf die Köpfe fliegt, sind die Trümmer einer gewaltigen geistigen Implosion.
Gibt es Hoffnung? Es gibt bis zum letzten Atemzug Hoffnung, lehrt uns Pater Paolo, der Gründer der Gemeinschaft von Mar Musa. Hoffnung ist das zentrale Motiv seiner Schriften. Am Tag nach der Entführung seines Schülers und Vertreters strömten die Muslime von Qaryatein ungefragt in die Kirche und beteten für ihren Pater Jacques. Das muss auch uns Hoffnung geben, dass die Liebe über die Grenzen der Religionen, Ethnien und Kulturen hinaus wirkt. Der Schock, den die Nachrichten und Bilder des „Islamischen Staats“ erzeugt haben, ist gewaltig, und er hat Gegenkräfte freigesetzt. Endlich formiert sich auch innerhalb der islamischen Orthodoxie ein Widerstand gegen die Gewalt im Namen der Religion. Und schon seit einigen Jahren sehen wir, vielleicht weniger im arabischen Kernland des Islams als vielmehr an den Peripherien, in Asien, in Südafrika, in Iran, der Türkei und nicht zuletzt unter den Muslimen im Westen, wie sich ein neues religiöses Denken entwickelt. Auch Europa hat sich nach den beiden Weltkriegen neu geschaffen. Und vielleicht sollte ich angesichts der Leichtfertigkeit, der Geringschätzung und offenen Missachtung, die nicht nur unsere Politiker, nein, die wir als Gesellschaft seit einigen Jahren dem europäischen Projekt der Einigung entgegenbringen, dem politisch Wertvollsten, was dieser Kontinent je hervorgebracht hat – vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, wie oft ich bei meinem Reisen auf Europa angesprochen werde: als Modell, ja beinah schon als Utopie. Wer vergessen hat, warum es Europa braucht, muss in die ausgemergelten, erschöpften, verängstigten Gesichter der Flüchtlinge blicken, die alles hinter sich gelassen, alles aufgegeben, ihr Leben riskiert haben für die Verheißung, die Europa immer noch ist.
Das bringt mich zurück zur zweiten Formulierung Pater Jacques', die ich bemerkenswert fand, zu seinem Satz über die christliche Welt: „Wir bedeuten ihnen nichts.“ Als Muslim ist es nicht an mir, den Christen in der Welt vorzuwerfen, sich – wenn schon nicht um das syrische oder irakische Volk – nicht einmal um ihre eigenen Glaubensgeschwister zu bekümmern. Und doch ist es, was auch ich oft denke, wenn ich das Desinteresse unserer Öffentlichkeit an der schon endzeitlich anmutenden Katastrophe in jenem Osten erlebe, den wir uns durch Stacheldrahtzäune, Kriegsschiffe, Feindbilder und geistige Sichtblenden fernzuhalten versuchen. Nur drei Flugstunden von Frankfurt entfernt werden ganze Volksgruppen ausgerottet oder vertrieben, Mädchen versklavt, viele der wichtigsten Kulturdenkmäler der Menschheit in die Luft gesprengt, gehen Kulturen und mit den Kulturen auch eine uralte ethnische, religiöse und sprachliche Vielfalt unter, die sich anders als in Europa noch bis ins 21. Jahrhundert einigermaßen bewahrt hatte – aber wir versammeln uns und stehen erst auf, wenn eine der Bomben dieses Krieges uns selbst trifft wie am 7. und 8. Januar in Paris, oder wenn die Menschen, die vor diesem Krieg fliehen, an unsere Tore klopfen.
Es ist gut, dass unsere Gesellschaften, anders als nach dem 11. September 2001, dem Terror unsere Freiheit entgegengehalten haben. Es ist beglückend zu sehen, wie viele Menschen in Europa und besonders auch in Deutschland sich für Flüchtlinge einsetzen. Aber dieser Protest und diese Solidarität, sie bleiben noch zu oft unpolitisch. Wir führen keine breite gesellschaftliche Debatte über die Ursachen des Terrors und der Fluchtbewegung und inwiefern unsere eigene Politik vielleicht sogar die Katastrophe befördert, die sich vor unseren Grenzen abspielt. Wir fragen nicht, warum unser engster Partner im Nahen Osten ausgerechnet Saudi-Arabien ist. Wir lernen nicht aus unseren Fehlern, wenn wir einem Diktator wie General Sissi den roten Teppich ausrollen. Oder wir lernen die falschen Lektionen, wenn wir aus den desaströsen Kriegen im Irak oder in Libyen den Schluss ziehen, uns auch bei Völkermord besser herauszuhalten. Nichts ist uns eingefallen, um den Mord zu verhindern, den das syrische Regime seit vier Jahren am eigenen Volk verübt. Und ebenso haben wir uns abgefunden mit der Existenz eines neuen, religiösen Faschismus, dessen Staatsgebiet etwa so groß ist wie Großbritannien und von den Grenzen Irans bis fast ans Mittelmeer reicht. Nicht, dass es einfache Antworten darauf gäbe, wie eine Millionenstadt wie Mossul befreit werden könnte – aber wir stellen uns nicht einmal ernsthaft die Frage. Eine Organisation wie der „Islamische Staat“ mit hochgerechnet 30.000 Kämpfern ist für die Weltgemeinschaft nicht unbesiegbar – sie darf es nicht sein. „Heute sind sie bei uns“, sagte der katholische Bischof von Mossul, Yohanna Petros Mouche, als er den Westen und die Weltmächte um Hilfe bat, um den IS aus dem Irak zu vertreiben. „Heute sind sie bei uns. Morgen werden sie bei euch sein.“
Ich möchte mir nicht vorstellen, was noch geschehen muss, damit wir dem Bischof von Mossul rechtgeben. Denn es gehört zur propagandistischen Logik des „Islamischen Staates“, daß er mit seinen Bildern eine immer höhere Stufe des Horrors zündet, um in unser Bewusstsein zu dringen. Als wir uns nicht mehr über einzelne christliche Geiseln erregten, die den Rosenkranz beten, bevor sie geköpft werden, fing der IS an, ganze Gruppen von Christen zu enthaupten. Als wir die Enthauptungen von unseren Bildschirmen verbannten, fackelte der IS die Bilder aus dem Nationalmuseum von Mossul ab. Als wir uns an zertrümmerte Statuen gewöhnt hatten, begann der IS, ganze Ruinenstädte wie Nimrod und Ninive zu planieren. Als wir uns nicht mehr mit der Vertreibung der Yeziden beschäftigten, rüttelten uns kurz die Nachrichten von Massenvergewaltigungen wach. Als wir glaubten, der Schrecken beschränke sich auf den Irak und Syrien, erreichten uns die Snuffvideos aus Libyen und Ägypten. Als wir uns an die Enthauptungen und die Kreuzigungen gewöhnt hatten, wurden die Opfer erst enthauptet und dann gekreuzigt, wie zuletzt in Libyen. Palmyra wird nicht auf einmal, vielmehr Bauwerk und Bauwerk gesprengt, im Abstand von Wochen, um jedes Mal ein neue Nachricht zu produzieren. Das wird nicht aufhören. Der IS wird den Horror so lange steigern, bis wir in unserem europäischen Alltag sehen, hören und fühlen, dass dieser Horror nicht von selbst aufhören wird. Paris wird nur der Anfang gewesen sein, und Lyon nicht die letzte Enthauptung bleiben. Und je länger wir warten, desto weniger Möglichkeiten bleiben uns. Anders gesagt, ist es schon viel zu spät.
Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen? Ich rufe nicht zum Krieg auf. Ich weise lediglich darauf hin, dass es einen Krieg gibt – und dass auch wir, als seine nächsten Nachbarn, uns dazu verhalten müssen, womöglich militärisch, ja, aber vor allem sehr viel entschlossener als bisher diplomatisch und ebenso zivilgesellschaftlich. Denn dieser Krieg kann nicht mehr allein in Syrien und im Irak beendet werden. Er kann nur von den Mächten beendet werden, die hinter den befeindeten Armeen und Milizen stehen, Iran, die Türkei, die Golfstaaten, Russland und auch der Westen. Und erst wenn unsere Gesellschaften den Irrsinn nicht länger akzeptieren, werden sich auch die Regierungen bewegen. Wahrscheinlich werden wir Fehler machen, was immer wir jetzt noch tun. Aber den größten Fehler begehen wir, wenn wir weiterhin nichts oder so wenig gegen den Massenmord vor unserer europäischen Haustür tun, den des „Islamischen Staates“ und den des Assad-Regimes.
„Soeben komme ich aus Aleppo zurück“, fuhr Pater Jacques in der Email fort, die er wenige Tage vor seiner Entführung am 21. Mai schrieb, „dieser Stadt, die am Fluss des Stolzes schläft, die im Zentrum des Orients liegt. Sie ist jetzt wie eine Frau, die von Krebs aufgefressen ist. Alle fliehen aus Aleppo, vor allem die armen Christen. Dabei treffen diese Massaker nicht nur die Christen, sondern das gesamte syrische Volk. Unsere Bestimmung ist schwer umzusetzen, vor allem in diesen Tagen, an denen Pater Paolo verschwunden ist, der Lehrer und Begründer des Dialogs im 21. Jahrhundert. In diesen Tagen leben wir den Dialog als ein gemeinschaftliches, gemeinsames Leiden. Wir sind traurig in dieser ungerechten Welt, die einen Teil der Verantwortung für die Opfer des Krieges trägt, dieser Welt des Dollars und des Euros, die nur nach ihren eigenen Völkern, ihrem eigenen Wohlstand, ihrer eigenen Sicherheit sieht, während der Rest der Welt hungers stirbt und an Krankheiten und am Krieg. Es scheint, dass ihr einziges Ziel ist, Gegenden zu finden, wo sie Kriege führen und den Handel mit Waffen, mit Flugzeugen noch steigern können. Wie rechtfertigen sich diese Regierungen, die die Massaker beenden könnten, aber nichts tun, nichts. Ich bange nicht um meinen Glauben, aber ich bange um die Welt. Die Frage, die wir uns stellen, ist die folgende: Haben wir das Recht zu leben oder nicht? Die Antwort ist schon da, denn dieser Krieg ist eine klare Antwort, so klar wie das Licht der Sonne. Also ist der wahre Dialog, den wir heute leben, der Dialog der Barmherzigkeit. Mut, meine Liebe, ich bin bei Dir und umarme dich fest, Jacques.“
Zwei Monate nach der Entführung von Pater Jacques, am 28. Juli 2015, hat der „Islamische Staat“ die Kleinstadt Qaryatein eingenommen. Die meisten Bewohner konnten im letzten Augenblick fliehen, aber zweihundert Christen wurden vom IS entführt. Einen weiteren Monat später, am 21. August, wurde das Kloster Mar Elian mit Bulldozern zerstört. Auf den Bildern, die der IS ins Internet gestellt hat, ist zu sehen, dass kein einziger der tausendsiebenhundert Jahre alten Steine auf dem anderen geblieben ist. Weitere zwei Wochen später, am 3. September, tauchten auf einer Website des Islamischen Staates Fotos auf, die einige der Christen aus Qaryatein in den ersten Stuhlreihen einer Schulaula oder einer Festhalle zeigen, kahlgeschoren, manche bis auf die Knochen abgemagert, ihre Blicke leer, sie alle von der Geiselhaft gezeichnet. Auch Pater Jacques ist auf den Photos zu erkennen, in ziviler Kleidung, ebenfalls kahlgeschoren und abgezehrt, deutlich wahrnehmbar die Erschütterung in seinem Blick. Er hält sich die Hand vor den Mund, als wolle er nicht wahrhaben, was er sieht. Auf der Bühne der Aula sitzt ein breitschultriger, langbärtiger Mann in Kampfuniform, der einen Vertrag unterzeichnet. Es ist ein sogenannter Dhimmi-Vertrag, der die Christen der Herrschaft der Muslime unterwirft. Sie dürfen keine Kirche und keine Klöster bauen, kein Kreuz und ebensowenig eine Bibel mit sich führen. Ihre Priester dürfen keine Priesterkleidung tragen. Die Muslime dürfen die Gebete der Christen nicht hören, ihre Schriften nicht lesen und ihre Kirchen nicht betreten. Die Christen dürfen keine Waffen tragen und müssen bedingungslos den Anweisungen des „Islamischen Staats“ gehorchen. Sie müssen sich ducken, müssen klaglos jede Ungerechtigkeit ertragen und außerdem eine Kopfsteuer zahlen, die Dschizya, damit sie leben dürfen. Es wird einem schlecht, wenn man diesen Vertrag liest. Er teilt die Geschöpfe Gottes ganz offensichtlich in Menschen erster und zweiter Klasse auf und lässt keinen Zweifel, dass es außerdem Menschen dritter Klasse gibt, deren Leben noch weniger gilt.
Es ist ein ruhiger, aber ganz und gar deprimierter, hilfloser Blick, den uns Pater Jacques auf dem Foto zuwirft, während er die Hand vor den Mund hält. Mit dem eigenen Martyrium hatte er gerechnet. Aber dass seine Gemeinde in Gefangenschaft geriet, die Kinder, die er getauft, die Liebenden, die er miteinander vermählt, die Alten, denen er die letzte Ölung versprochen hat, das muss ihn um den Verstand bringen, selbst den bedächtigen, innerlich so starken, gottergebenen Pater Jacques um den Verstand. Seinetwegen waren die Entführten schließlich in Qaryatein geblieben, statt wie so viele andere Christen aus Syrien zu fliehen. Pater Jacques wird denken, dass er Schuld auf sich geladen hat. Aber Gott, das weiß ich, Gott wird anders über ihn urteilen.
Gibt es Hoffnung? Ja, es gibt Hoffnung, es gibt immer Hoffnung. Ich hatte diese Rede bereits geschrieben, als mich vor fünf Tagen, am Dienstag, die Nachricht erreichte: Pater Jacques Mourad ist frei. Bewohner des Städtchens Qaryatein haben ihm zur Flucht aus seiner Zelle verholfen, sie haben ihn verkleidet und mit Hilfe von Beduinen aus dem Gebiet des „Islamischen Staates“ geschafft. Inzwischen ist er zu seinen Brüdern und Schwestern der Gemeinschaft von Mar Musa zurückgekehrt. Offenbar waren zahlreiche Menschen an der Befreiung beteiligt, sie alle Muslime, und jeder einzelne von ihnen hat sein Leben für einen christlichen Priester riskiert. Die Liebe hat über die Grenzen der Religionen, Ethnien und Kulturen hinaus gewirkt. So herrlich, ja, im Wortsinn wunderbar diese Nachricht ist, so überwiegt dennoch die Sorge, am brennendsten bei Pater Jacques selbst. Denn das Leben der zweihundert anderen Christen von Qaryatein dürfte nach seiner Befreiung erst recht in Gefahr sein. Und auch von seinem Lehrer Pater Paolo, dem Gründer der christlichen Gemeinschaft, die den Islam liebt, fehlt weiterhin jede Spur. Es gibt bis zum letzten Atemzug Hoffnung.
Ein Friedenspreisträger soll nicht zum Krieg aufrufen. Doch darf er zum Gebet aufrufen. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie um etwas Ungewöhnliches bitten – obwohl es so ungewöhnlich in einer Kirche dann auch wieder nicht ist. Ich möchte Sie bitten, zum Schluss meiner Rede nicht zu applaudieren, sondern für Pater Paolo und die zweihundert entführten Christen von Qaryatein zu beten, den Kindern, die Pater Jacques getauft, die Liebenden, die er miteinander vermählt, den Alten, denen er die Letzte Ölung versprochen hat. Und wenn Sie nicht religiös sind, dann seien Sie doch mit Ihren Wünschen bei den Entführten und auch bei Pater Jacques, der mit sich hadert, weil nur er befreit worden ist. Was sind denn Gebete anderes als Wünsche, die an Gott gerichtet sind? Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder ohne Gott in unserer Welt wirken. Ohne Wünsche hätte die Menschheit keinen der Steine auf den anderen gelegt, die sie in Kriegen so leichtfertig zertrümmert. Und so bitte ich Sie, meine Damen und Herren, beten Sie für Jacques Mourad, beten Sie für Paolo Dall'Oglio, beten Sie für die Christen von Qaryatein, beten Sie oder wünschen Sie sich die Befreiung aller Geiseln und die Freiheit Syriens und des Iraks. Gern können Sie sich dafür auch erheben, damit wir den Snuffvideos der Terroristen ein Bild unserer Brüderlichkeit entgegenhalten.
Ich danke Ihnen.
Quelle: http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/819312/ Oktober 2015